Jörg Münstermann
Verband der Angestellten-Krankenkassen e.V.
Arbeiter-Ersatzkassenverband e.V.
Abteilung Stationäre Einrichtungen
 
 

Anwendungsfelder medizinischer Klassifikationen aus der Sicht der Kostenträger
 
 

1. Komplettes Fallpauschalen-System der Krankenhausfinanzierung

Das GSG2000 sieht vor, dass in Regie der Selbstverwaltung in zwei Jahres ein komplettes Fallpauschalensystem, nach Lage der Dinge APDRG, implementiert und die Wasserscheide zwischen selbstkostenbezogener zu leistungsbezogener Budgetbemessung überschritten wird. Der Gesetzgeber stellt die Beteiligten aus Krankenhäusern und Krankenkassen und deren Verbände vor folgende Aufgaben:

Benötigt werden ICD10 und OPS301, dabei Übergang zu Dokumentation und Meldung von Nebendiagnosen und mehreren operativen Prozeduren.

Wenn das Fallpauschalen-System als Verteilungsmechanismus eines sektoralen Budgets auf dem Plafond durch die Bedarfsplanung der Länder gesicherter historischer Krankenhausstrukturen aufsetzt und sie konserviert, erlahmen Innovations- und Investitionskraft der Häuser. Die finanzdecke ist für alle zu kurz. Zum Erhalt einer leistungsfähigen Krankenhausversorgung ist der Einstieg in Preis- und die Freigabe eines verhandlungsfähigen Mengenkorridors erforderlich. Ohne Verhandlung von Marktanteilen keine ‚economies of scale‘, ohne Wettbewerb um Marktanteile keine Kapazitätsbereinigung. Entscheidend ist nicht die Einführung fallbezogener Entgelte ab 2002. Entscheidend ist die Deregulierung der planwirtschaftlich zementierten Versorgungsstrukturen und der Übergang in Preiswettbewerb und betriebswirtschaftliche Leistungs- und Investitionsplanung. Zentrales Anwendungsfeld des Fallpauschalensystems ist deshalb seine Funktion als Führungsinstrument im Krankenhaus und als Instrument zur Abschätzung der regionalen Versorgungsdichte und des Leistungsbedarfs der Kostenträger.
 

2. Komplex- und Fallpauschalen zur Verteilung der vertragsärztlichen Gesamtvergütung

Im Bereich der vertragsärztlichen Versorgung sind derzeit die Probleme klarer als die Lösungsansätze. Die Zahl der Praxen wächst langfristig schneller als der verfügbare Verteilungsrahmen, die grundlohnsummenbezogene Gesamtvergütung. Bei konstanten oder rückläufigen Fallzahlen je Praxis und stagnierenden Praxisbudgets produziert die wachsende Leistungsmenge einen rasanten Punktwertverfall. Die Krankenversicherung sieht im „Hamsterrad“ und einer langfristig festgeschriebenen sektoralen Budgetierung ohne Morbiditätskomponente eine Gefahr für die qualitativ gute Versorgung der Bevölkerung. Wir arbeiten an Lösungen, Leistungen auf den Morbiditätsfall bezogen darstellbar zu machen und den EBM durch pauschalierte Entgelte für Leistungskomplexe abzulösen.

Netze gliedern Regional- oder Gruppenbudgets aus der Gesamtvergütung aus und verteilen sie nach einem internen HVM in Praxisbudgets. Das Netzmodell ist als Strukturprinzip untauglich, weil ungesichert gegen Risikoselektion und Leistungsverlagerung. Es ist Symptom des allgemeinen Unbehagens am EBM. Was fehlt, ist ein Instrument, den Leistungsbedarf der Netzpatienten zu taxieren, und das Budget leistungsbedarfsbezogen fortzuschreiben.

Untauglich ist der Versuch, einzelne Töpfe mit Leistungskomplexen und pauschalierten Entgelten aus der Gesamtvergütung auszugliedern. Das sind Palliativmaßnahmen, um die Existenzbedohung einzelner Fachgruppen abzuwenden.

Benötigt wird ein System, die Praxisbudgets nach einem risikoadjustierten Fallmix  zu be-messen. Das heißt, das Budget errechnet sich aus der Summe der Kopfpauschalen der behandelten Patienten. Die Kopfpauschalen sind zu gewichten mit einem Faktor, der den indikationsbezogenen Leistungsbedarf des Falls ausdrückt. Die Indikationen sind die leistungsbegründenden Diagnosen, das Fallgewicht ist der Anteil der auf jeden Fall der Fallgruppe durchschnittlich entfallenden Aufwendungen.

Die freiwilllige oder obligatorische Übermittlung von Diagnosen nach ICD10 zur Leistungsbegründung in den Abrechnungsdaten nach § 295 SGB V ist ein Übungsmanöver. Es dient dem Aufbau einer Datenbasis, die den Weg zu einem neuen System pauschalierter indikationsbezogener Entgelte und zu Transparenz des Leistungsgeschehens im ambulanten Sektor eröffnet.
 

3. Bedarfsgerechte Bemessung der sektoralen Budgets

Der Gesetzgeber setzt – Ausdruck der Verlegenheit – auf globale Budgetierung. Herunter-gebrochen in sektorale Budgets, frieren sie eine Momentaufnahme der Versorgungsland-schaft ein. Es fehlt die leiseste Andeutung, wie die Krankenkassen und ihre Verbände die sektoralen Budgets bemessen oder die Verteilungsrelationen überprüfen und korrigieren sollen. Noch unbefriedigender ist die Aufteilung der sektoralen Budgets in Krankenhaus- und Praxisbudgets. Der Verteilungsmechanismus stimuliert nicht Leistungswettbewerb und Profilierung am Markt durch Innovation und Expansion, sondern macht das Kosten-management zur ersten Priorität. Um Kosten einzusparen, muss die Leistungsintensität des Fallmixes gesenkt werden. Daher das Postulat der Krankenhäuser, in die ambulante Versorgung einzusteigen, die Tendenz der Praxen, zeitintensive Patienten stationär ein-zuweisen. Daher trotz weltweit höchster Bettendichte immer noch steigende Fallzahlen.

Die Ersatzkassen setzen auf Entstaatlichung der Gesundheitsmärkte. Die Budgetierung ist eine Not- und Übergangsmaßnahme. Die Versorgung mit Gesundheitsgütern muss den Bedarf der Bevölkerung decken. Der Bedarf bemisst sich nicht an der Auslastung vorhandener Kapazitäten. Die Formel: Belegung = Bedarf hat zu Überkapazitäten in der Krankenhausversorgung geführt, für die wir die politische Zahl von 40 Tsd. Betten in die Diskussion gebracht haben. Ebenso ist die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage Deutschlands im internationalen Vergleich sehr hoch.  Die nicht bedarfsgerechte Versorgung mit Arzneimitteln ergibt sich plastisch aus der Menge, die unverbraucht entsorgt wird.

Wir brauchen Bedarfsmaße, die unabhängig sind von der angebotsinduzierten Leistungsinanspruchnahme.  Sie gehören in den Bereich Qualitätssicherung, der für die Kostenträger vorrangig die Überprüfung der Leistungsfälle an einem strikten Bedarfsmaßstab ist.

Fehlbelegungsprüfung wird mit Hilfe der AEP-Klassifikation zur Budgetkorrektur.

Fallgruppenspezifische Fehlbelegungsquoten (APDRG und AEP) und erlauben, aus dem Fallmix das Fehlbelegungspotenzial zu schätzen und die Leistungsstruktur zu entwickeln.

Die Fehlbelegungsquote ist ein von der Bedarfsplanung unabhängiger Indikator, ob der vom Wettbewerb bewirkte Kapazitätsabbau Versorgungsengpässe erzeugt.

Kern des Verfahrens Qualitätssicherung Fallpauschalen ist die Indikationsprüfung. Sie erlaubt, im regionalen oder internationalen Vergleich auffällige Dichteziffen definierter Fallgruppen medizinsch und gesundheitsökonomisch zu bewerten.

Für den ambulanten Sektor fehlen die Grundlagen morbiditätsbezogener Budgetbemessung. Wir sind bereit, daran mitzuwirken, sehen uns aber nicht unbedingt als Promotor.
 

4. Risikoadjustierung im Management integrativer Versorgungsmodelle

Seit langem diskutiert werden Modelle eines integrativen Versorgungsmanagements. Den Ansatz auf Anbieternetze kleinen Maßstabs zu übertragen, kommt dem Eingeständnis gleich, dass die GKV als Leistungsträger der gesamten Gesundheitsversorgung mit der Steuerung des Systems überfordert ist und die Kassenärztlichen Vereinigungen ihren Sicherstellungsauftrag im Sinne eines Dienstleisters fürs Inkasso ausüben, auf die effiziente Gestaltung und Prozesssteuerung der Behandlungskarrieren aber keinen Einfluss nehmen. Selbst wenn die Diagnose zutrifft, stellen sich zwei Fragen: Wie müssen Versorgungsnetze verfasst und geleitet sein, um besser zu steuern? Und sind wir bereit, die Ne-beneffekte, wie Einschränkung der freien Arztwahl, Erschwerung/Verteurung des Patientenzugangs zu externen Ressourcen und Zusammenführung praktisch aller Behand-lungsindikationen und Leistungsdaten als Basis der Fallsteuerung, zu akzeptieren?

Ich überlasse die Beantwortung der Fragen dem weiteren politischen Prozess.

Technologische Voraussetzung des IVM ist die elektronische Vernetzung der beteiligten Leistungserbringer und die betriebsübergreifende Einrichtung Elektronischer Patientenak-ten als Referenzgröße zur Koordination des Behandlungsprozesses. (vgl. DLR-Projekt EPA Erftkreis). Logischer Aufgabenträger der neuen Informationsinfrastruktur sind die Kassenärztlichen Vereinigungen. Erweisen sie sich als bewegungsunfähig, sind autonome Insellösungen als Einstieg denkbar.

Elektronische Patientenakten haben einen informatorischen Nutzen und entfalten betriebswirtschaftliche Steuerungswirkung nur in Verbindung mit einer unter Leitindikationen strukturierten Leistungsdarstellung. Zur Zeit sind die Indikationen auf Einzelleistungen oder in einer Visite erbrachte Leistungskomplexe bezogen. Für Prüfzwecke und Case Ma-nagement ist die Klassifikation indikationsbezogener Leistungskomplexe unter perioden-bezogene Indikationen erforderlich. Diese sekundäre Klassifizierung könnte analog der stationären Entlassungsdiagnose am Ende der Periode vom behandelnden Arzt vergeben werden. Wird sie jedoch für die Budgetbemessung relevant, öffnet sich ein nicht akzeptabler Ermessensspielraum. Vorzuziehen ist daher ein Klassifikationssystem, das induktiv aus den indikationsbezogenen Leistungskomplexen der beteiligten Vertragsärzte und den Fallgruppen der stationären Behandlung die Patienten Fallgruppen der ambulanten Versorgung zuordnet. Dazu sind die Leistungskomplexe chronischen Prozessen zuzuordnen und aus Zahl und Interaktion der chronischen Prozesse behandlungsbedarfsbezogene Fallgruppen zu ermitteln (sogeannte APG= Ambulatory Patient Groups). Basis sind ICD10-Codes und EBM-Ziffern.
 

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